Fragmentsplitter zu einer Ästhetik des kommunikativen Widerstands.
„Rede, damit ich dich sehe“, Sokrates, Über Physiognomik
„Der Ton macht die Musik“ in der Kommunikation. Der Klang der Stimme,
dieses primäre Ausdrucksmedium des Menschen, gibt vor allen bewusst
eingesetzten rhetorischen und argumentativen Strukturelementen den prägenden Grundton an. Durch die Rollen-Maske der Per-sona gleichsam hindurch-tönend, erreicht der Stimmklang das Gemüt vor dem Bewusstsein und hinterlässt bereits in den ersten 30 Sekunden des Hörbarwerdens einen nachhaltig aufrichtigen, zuweilen demaskierenden Eindruck davon, wer wir sind, wer wir sein wollen und wofür wir stehen.
Albert Mehrabian stellte in einer Studie „“Inference of Attitude from Nonverbal Communication in Two Channels““ (The Journal of Counselling Psychology 31, S. 248-252, 1967) fest, dass bei einer Präsentation vor Gruppen 55 Prozent der Wirkung durch nonverbale Kommunikation (Körperhaltung, Gestik und Augenkontakt) bestimmt wird, 38 Prozent des Effekts durch den Stimmklang und nur 7 Prozent durch den Inhalt des Vortrags.
Ob es einem passt oder nicht: die Stimme des/r Sich-Ausdrückenden erklingt/tönt in jedem Fall – wie, das ist die andere entscheidende Frage.
„Wenn man [in einer politisch ausgerichteten Talkshow] unvorteilhaft posiert oder eine unangenehme Stimme hat, dann hat man in diesem Format ein Problem. Ganz unabhängig von der Sache oder der Argumentation, der man sich bedient. Man ist Teil eines medialen Spiels, eines bestimmten Formats. Und hier stellt sich die Frage: Wie weit geht diese Anpassung? Man ist schnell Teil von etwas, das man eigentlich nicht will…“
Viel Lärm um nichts. Die Talkshow als Moment von Antiaufklärung, Gespräch mit dem Medienwissenschaftler Dietrich Leder, ak, 18.06.2010
Diese subtile, unbewusst agierende „Macht“ der Stimme haben sich professionelle Kommunikationsstrategen, die im Auftrag von Führungs- und Unternehmensstrukturen agieren, schon längst intensiv zu Nutze gemacht. Führungskräfte aus Wirtschaft, Politik und Kultur lassen Stimme und Styling coachen, was bei Auseinandersetzungen mit Protestbewegungen allzu oft unüberhör- und -sehbar im wortwörtlichen Sinn ist. Systemkritische Wortergreifer, denen ihre eigene Stimme fatalen Widerstand leistet, erweisen sich gewieft-durchtrainierten Sprachmanipulatoren gegenüber als durchaus ir-resistent.
Die Ohren „sind auf dem Feld des Unbewussten die einzige Öffnung, die sich nicht schließen kann.“
Jaques Lacan, zit. n. Manfred Pabst, Bild, Sprache, Subjekt:
Traumtexte und Diskurseffekte bei Freud, Lacan, Derrida, Beckett und Deleuze/Guattari, 2004, S.32
Nun bestünde ein naheliegender Ausweg aus diesem Dilemma ungleicher Stimmwappnung darin, die kommunikativ überlegenen Redner mit ihren eigenen Instrumentarien zu „schlagen“, sich mithin deren etabliert-bewährte Herrschaftsstrukturen stimmlichen und darüber hinaus allgemein ästhetischen Ausdrucks anzueignen. (Das Styling-Potential, der visuelle Gegenpart, wäre hier eine signifikante Ergänzung.)
Das würde bedeuten, schon einmal zu lernen, dass es eben nicht darum geht, Parolen noch lauter schreien zu lernen, ohne heiser zu werden, sondern im Gegenteil darum, subtiler und raffinierter sprechen zu lernen, also die neuesten Erkenntnisse moderner Kommunikationstechniken zu integrieren, um den „Gegner“ sprachlos zu machen.
Doch wäre solches Procedere nicht mehr als Fortsetzung des ewig Gleichen unter besten Falls umgekehrten Vorzeichen. Haarscharf vorbei an der Chance zu der tiefst gründigen strukturellen Veränderung, welche im Potential der stimmklanglichen Konstituierung von Kommunikation der subversiven Entdeckung harrt. Bedauerlich rasant vorbei an dem emanzipatorischen Sprengstoff, den die Körperlichkeit der menschlichen Stimme in jedem laut werdenden Wort in sich birgt.
Die Antike von Pythagoras bis zu Hildegard von Bingen und die noch nicht vermarkteten außereuropäischen Kulturen lebten aus dem Bewusstsein heraus, dass der Mensch erst als musikalisches Wesen, als Klangwesen, ganz Mensch ist. Vielleicht vermag ihre transhistorische, weil klanganthropologische Aktualität uns technozeitigen Kopffüßlern, die alles hoffnungs- wie ausnahmslos und vor allem klangbeliebig-monoton instrumentalisieren, Beistand bei der Rettung aus der Havarie der Emanzipation zu leisten.
„No, I ain´t got my childhood/ Or friends I once know/ But I still got my voice left/ I can take it anywhere I go.“ (Bob Dylan)
Wie wäre es, wenn die Stimme als universales integer-integrales Ausdrucksmedium individuelle Authentizität und durch die Authentifizierung des individuellen Stimme-Seins ein kollektives Ausdrucksreservoir schöpfen könnte? Jedes laut werdende Sprachelement ist und agiert radikal und wesentlich körperlich. Jedes gesprochene Wort bringt stets das Körperganze von den Zehen bis zum Scheitel des Kopfes zum Schwingen und innerhalb dieser kontinuierlichen Gesamtschwingung die phonetischen Mikrostrukturen zum Klingen.
Der menschliche Körper ist das Instrument Stimme, entsprechend die Stimme das unmittelbarste und zugleich mobilste Instrumentarium jedweder individuellen und kollektiven Identifizierung und Äußerung. Entscheidend dabei ist es, dies sich dem Mentalen entziehende Allereinfachste zu „verstehen“, möchte sagen zu spüren, zu hören, zu fühlen: Dass ich meine Stimme nicht besitze, sondern dass ich selbst meine Stimme ganz und gar und mit -–Haut -–und -Haaren bin.
In dieser Einzigartigkeit liegen zugleich Schwierigkeit und Chance. Chance, weil ich meine Stimme jederzeit und -jedenorts „dabei“ habe und weil sie alles Hilfreiche und Notwendige in einem konstituiert: Entspannung und genialen StimmTonus (Ton = Spannung + Klang), Boden-unter-den-Füßen und Aufricht-igkeit/-ung (meine Stimme verrät mir meine Stimmung und richtet mich auf), Innen- und AussenresonanzAußenresonanz, Zwischen- und Obertöne, Einstimmig-keit und Zusammenklang des Verschiedenen, hedonistisches Selbst-Bewusstsein und Sich-Ausdrücken. Und als bedingungslose Konsequenz: ein genaues, subtiles, öffnendes Hören.
Doch die Chance birgt zugleich die Schwierigkeit, da jede Auseinandersetzung mit meiner Stimme not-wendige Auseinandersetzung mit mir selbst bedeutet – mit diesem Stimm-Ich (stimm ich?), welches in unserer Gesellschaft ungeheuerlich oft geradezu stimmtabuisiert ist – halte die Klappe, sing nicht so falsch… Die zärtlich-subtilen Schwingungen meiner Stimme konfrontieren mich schonungslos-liebevoll mit meiner schambesetzten Intimität. Das macht Angst. Aber da muss mannfraustimme durch.
„Diese Universalität bedingt, dass struktural begründet kein Bewusstsein ohne die Stimme möglich ist. (…) Die Stimme ist das Bewusstsein.““
Jacques Derrida, Die Stimme und das Phänomen: Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, 2003.
Wie kann ich Verantwortung für Veränderung übernehmen, wenn ich mich selbst nicht zur permanenten Basisbaustelle mache? Wie kann ich von Stimmrecht reden, wenn ich meine eigene Stimme als potentiell stimmiges Stimm-Ich gar nicht ernst nehme? Wie kann soziale Polyphonie alias Harmonie entstehen, wenn die Mit-Töner nicht bereit zum Abenteuer der individuellen Stimmigkeit sind?
Jorinde Reznikoff
Jorinde Reznikoff ist, Stimmtrainerin, Performerin und Redakteurin der neopostdadasurrealpunkshow, Radio FSK Hamburg.
www.voice-style-inspiration.de
Stimm-Tipps
Bleib dir treu: Versprech dich oft, doch so grandios wie möglich.
Genieße den Klang Deiner Stimme beim Sprechen. Genieße jeden Laut.
Nimm dich selbst wahr – dann wirst du wahrgenommen. Deine Stimme wird gehört, wenn du sie selbst hörst.
Hab keine Angst vor Stille. Stille ist der Schlüssel zum Gehör/Hören und Gehörtwerden.
Hol bloß nicht tief Luft, sondern im Gegenteil: Atme erst einmal tief aus, bevor du zu sprechen beginnst.
Sprich mit Händen und Füßen.
Selbstbewusstes Sprechen richtet DichKörper auf. DuKörper bist das Sprachrohr zwischen Fuß und Kopf, Dir und DirSelbst, Dir und der Welt.
Deine Stimme ist das subversivste Protestmedium/Sprachrohr/Veränderungsmedium, weil Du es selbst bist.
Stimme kann jeden Raum besetzen. Klang lässt sich weder ausweisen noch festnehmen.