Shumona Sinha: „Erschlagt die Armen! / „Assommons les pauvres!

„Erschlagt die Armen!“*. Ein Buch mit einem derartigen Titel trifft just in einem Moment im deutschen Buchhandel ein, in dem nicht versiegende Ströme von „Armen“ in Europa eintreffen.

Natürlich hatten die Verleger diese Nähe zu den dramatischen Zeitereignissen nicht planen können. Natürlich geht es dem libertären Verlag Edition Nautilus nicht darum, Wasser auf die Mühlen derer zu gießen, die Flüchtlingsunterkünfte lieber anzünden als einladend zu gestalten. Natürlich geht es nicht um eine Gebrauchsanweisung, wie mit „Armen“ umzugehen sei.

Shumona Sinha schrieb ihren 2011 erschienen französischen Roman „Assommons les pauvres!“, währenddessen sie als Übersetzerin zwischen der französischen Migrationsbehörde und bengalischen Asylbewerbern in Frankreich arbeitete. Und es geht um diesen sehr präzisen Kontext, das betont sie heute, 2015. Sie schrieb ihre unerträgliche Erfahrung als „Bindestrich“ in einem ausweglosen Lügensystem aus sich heraus, so wie man etwas Unverdauliches auskotzt. Schrieb es auf, um es für alle mit und in jedem Sinne spürbar zu machen. „Sprechen ist eine Freiheit. Eine Magere immerhin.“ („Erschlagt die Armen!“, Edition Nautilus, Hamburg 2015, S. 79) Eben diese Freiheit zu missbrauchen, werden die bengalischen Asylbewerber angehalten, wenn sie, die ökologische und ökonomische Flüchtlinge sind, politische oder menschenrechtliche Vorwände erfinden müssen, da nur solche anerkannt werden. Dass sie von vorneherein keine Chance haben, ist allen bekannt. Dennoch werden sie für ihre letzten Ersparnisse nach Europa geschleust, „dürfen“ illegal zu Ausbeuterlöhnen in Europa bleiben und jedes Jahr neu ihren ausweglosen Antrag wiederholen.

Eleutheria, die Freiheit, beschreibt die Möglichkeit zu gehen, wohin man möchte. Ob Tier oder Mensch, der Wunsch zu gehen, wohin man möchte, ist unveränderlich. Ob Grieche oder nicht, frei ist niemand. Sie waren es nicht, keiner der Männer, die wir in unseren Büros empfingen, war frei. Sie werden es niemals sein. Aber sie werden frei sein zu sagen, was sie zu sagen haben. Sie werden frei sein zu sagen, was sie für ihre Wahrheit halten.“ (ebd., S. 78/9)

Shumona Sinha maßt sich nicht an, an ihrer Stelle zu sprechen. Überhaupt maßt sie sich nicht an zu wissen, was zu tun, zu denken, zu ändern sei in einer Welt der Ratlosigkeit angesichts der Migrationsströme als eine der bedrohlich sichtbarer werdenden Konsequenzen einer Mensch und Natur ausbeutenden Weltwirtschaft. Doch ihr Sprechen tut gut. In schonungslos genauer Wahrnehmung denunziert und nährt dies Sprechen zugleich, seziert und zeigt doch das Aufscheinen des verwobenen Geflechts in jedem Detail. Es sind aus der fruchtbaren Wut der Auflehnung geborene Bilder, Metaphern, die auch noch der Trostlosigkeit Pariser Banlieues und grau-steriler Behördenräume Berührung zutrauen. Das Unentscheidbare eines jeden Hier und Jetzt, das, was jeder Moment über alles falsch Klingende hinaus an Richtigkeit in sich trägt – Shumonas Sprache legt die Schönheit in diesem Überschuss  frei. Tut das, ohne etwas zu beschönigen, denn wahre Schönheit beschönigt nicht. In diesem Versprechen der Schönheit richtet sich Würde auf. Shumona Sinhas Sprechen holt Menschen, Orte und Situationen auf Augenhöhe zurück. Dorthin, wo  Würde wartet.

Und genau dies befreiende Sprechen hebt Shumona Sinhas Roman „Erschlagt die Armen!“ aus dem spezifisch französisch-begalischen Kontext heraus in ein Heute, in dem vielleicht nur eines klar ist: Dass alle Menschen sich ihrer Würde bewusst werden und in ihrem Namen leben und handeln sollten. Diejenigen, die Zuflucht suchen, wie diejenigen, die für Zufluchtsorte Sorge tragen. Egal, wie es dann weitergeht. Mit uns allen.

Denn wir sind alle Flüchtlinge.

*Der Titel „Erschlagt die Armen!“ ist einem Prosatext von Baudelaire entlehnt, in dem Baudelaires Dämon ihm eingibt, einen Bettler zu verprügeln, um seinen Lebenswillen zu wecken und ihn auf Augenhöhe zurückzuzwingen: „Nur der ist der Freiheit würdig, der sie zu erobern weiß.“ Ein richtiger Grundgedanke, nur bedarf es dazu keiner Gewalt, das intensive Wahrnehmen der Würde im Eigenen und Fremden befreit und ermutigt dazu, sich in Augenhöhe aufzurichten.

 

Ein kurzer Auszug aus der Lesung vom 3.9.2015 im Buchladen Osterstraße

 

Das – auf Französisch geführte – Interview (mit deutscher Zusammenfassung) mit Shumona Sinha dazu: „Die Würde retten.“ ⇒

 

Ein spannender Kommentar von der Modeaktivistin Vivienne Westwood, die mit dem Motto „Policians are criminals“ unerwegs ist. Ein Mott, was anstößt – aber als Aufforderung zum In-die-Verantwortung-gehen natürlich auch jeden betrifft. „Wir werden alle Flüchtlinge.“

NEU: Ein Update von 2016!