Wie sie bei Düsenjägern in die Lehre ging, akustische Klänge zur Erfüllung ihrer elektronischen Suche wurden und eine entscheidende kleine Mogelei der klassischen Musik zu deren Perfektion verhalf und über sie hinaus…
Beim diesjährigen Festival des klub katarakt 33 auf Kampnagel in Hamburg war Eliane Radigue, die Grande Dame der elektronischen Musik, als Ehrengast geladen. Anlass für Jorinde Reznikoff vom Freien Sender Kombinat, sie zu einem Gespräch zu bitten.
JR: Bis zur Jahrtausendwende waren Sie für Ihre elektronischen Kompositionen bekannt, gleichermaßen die Grande Dame der elektronischen Musik. Machen Sie jetzt ausschließlich akustische Musik?
ER: Für mich ist sie die Erfüllung dessen, wonach ich mein ganzes Leben lang mit elektronischen Mitteln gesucht hatte und wem ich mich ein wenig auch hatte nähern können. Jetzt machen diese Musiker (1) wahrhaft die Musik, die ich schon immer habe machen wollen – eine viel reinere. Denn die akustische Musik hat einen Reichtum, welchen die elektronische nie erreichen wird, die analoge oder noch weniger digitale, bei der enorm viel von dem verloren geht, was die Würze der Musik ausmacht. Das, was den Unterschied zwischen einer guten und einer weniger guten Geige bei gleicher Tonhöhe bedingt, ist der Reichtum des Klangspektrums, welches im ersten Fall sehr weit ist. Oder was einen großen Sänger von einem kleinen unterscheidet – der Obertonreichtum, der sich wundervoll entfaltet. Oder beispielsweise eine Glocke in den Bergen… Selbst wenn die Glocke verstummt ist, sind die Töne noch da und schwingen weiter.
Ich hatte immer Lust, mich dieser Art von Musik zu nähern, einer Musik, welche sich auf Grundtöne (2) konzentriert.
JR: Sie haben lange über „Geräte“ und „Maschinen“ Klänge erforscht?
ER: Mit dem Klang-Synthesizer habe ich nicht richtige Forschungen verfolgt, er hat mir nur mehr Möglichkeiten gegeben, mich einem gewissen Typ Musik zu nähern. Ich hatte Lust, eine ganz bestimmte Musik zu hören, und musste sie mir schaffen, um sie hören zu können. Ich hatte die Musik in meinem Kopf oder, mit dem Orient gesprochen, in meinem Herzen.
Zunächst, in den 60er Jahren, geschah das mit sehr wilden Mitteln, mit Feedback und solchen Dingen. Es waren die einzigen und durchaus interessanten Mittel, die wir damals hatten, die Buchla-Synthesizer z.B. Wir mussten viel Geduld und Sorgfalt entwickeln, die brauchten wir, um die Potenziometer feinfühlig manipulieren zu können. Die analogen Synthesizer, mein wunderbarer ARP (3), erlaubten mir, noch mehr Präzision und Meisterschaft zu entwickeln.
JR: Die Szene der elektronischen Musik erscheint mir oft sehr intellektuell.
ER: Diese Erfahrung habe ich in meinen jungen Jahren gemacht, als ich die Zwölftonmusik studierte, die intellektuell sehr interessant war. Da ich jedoch keine besondere Liebhaberin der Dissonanz war, versuchte ich, das in zwei Tetrachorden zu organisieren, etwa nach dem Vorbilde der alten griechischen Modi. Aber es gab immer Stellen, wo es klemmte. Ich tat das damals, wie ich heute vielleicht ein Kreuzworträtsel lösen würde, doch das klangliche emotionale Resultat war nie ganz zufriedenstellend.
Deshalb war meine Begegnung mit Pierre Schaeffer absolut entscheidend. Sie bestätigte mir: Alles ist Musik, es kommt einzig und allein auf die Art zu hören und zu selektieren an.
Eine meiner „hohen“ Ausbildungsstätten waren die Flugzeuge – die früheren, nicht diese schweren der heutigen Generation, zuerst die mit Propellerantrieb. Sie hatten einen unglaublich feinen Klangreichtum; man konnte sich durch die natürliche Filterung, die das Ohr vornimmt, eine ganze Sinfonie daraus erschaffen. Dann die ersten Düsenjäger – einfach wunderbar! Dies Erlebnis erlaubte mir plötzlich, das ganze Klanguniversum um uns herum wirklich zu hören und in Musik zu verwandeln. Zunächst in uns. Und hier zitiere ich Laetitia Sonami, eine ehemalige Schülerin von mir, die eine sehr schöne Musik geschaffen hatte, welche den großen Wasserfall in der Bucht von San Francisco evozierte. Dort gab es Musik auf unterschiedlichen Ebenen wahrzunehmen, ferne und nahe, was sehr an ihre eigne Musik erinnerte. Sie sagte: „Hätte ich das einfach so aufgenommen, wäre es platt geblieben. Ich musste es rekonstruieren.“ Was heißt, dass alle Musik, die uns umgibt, rekonstruiert werden muss.
Das wurde von John Cage bestätigt. Wir sind ja alle Schüler von John Cage, der uns plötzlich die Freiheit gab, indem er sagte, die Musik ist nicht nur…
Ich bin in der klassischen Musik ausgebildet und liebe klassische Musik sehr, aber die klassische Musik ist heute an einem Punkt solcher Perfektion angekommen, dass man nichts mehr damit machen kann.
Doch gibt es da merkwürdigerweise eine Sache, auf die ich jetzt mit großer Freude stoße: Die klassische Musik, wie wir sie heute kennen, beruht auf einer kleinen Mogelei, der temperierten Quinte, die ein klein wenig tiefer gelegt ist als die richtige Quinte. Wie bei allen irrationalen Zahlen bewirkt dieser winzig kleine Abstand das, was man den Schmetterlingseffekt nennt. Und von diesem winzigen Puffer aus ereignen sich viele Dinge.
Als Konsequenz geht es nicht einfach darum, ein Instrument umzustimmen, wenn es möglich ist wie bei einer Harfe oder für tolle Musiker wie Charles Curtis, wenn er La Monte Young spielt. In der reinen Stimmung zu spielen, ist pure Akrobatik. Charles spielt mit dem „Spiel“, welches sich jenseits des unverzichtbaren Grundtons ereignet und nach einer Weile absolut dominiert. Das Ohr ist allmählich immer stärker davon angezogen und hört schließlich nur noch das. Selbst wenn der Grundton noch da ist, achtet man kaum mehr auf ihn. Und die Obertöne kümmern sich nicht um die Stimmung, sondern spielen miteinander – vollkommen sauber. Das ergibt Reibungen, Pulsationen, Mannigfaches passiert, jedes Mal das Gleiche und jedes Mal anders.
Meine Musik ist auch ein bisschen so… Es handelt sich jedoch keinesfalls um Improvisation, sondern die Stücke sind klar strukturiert. Es gibt eine Basis, eine Geschichte, einen Arbeitsmodus sowie einen Modus der Kommunikation – Worte, Gesten, Abstraktionen, sonst ließe sich das nicht notieren. Ich hatte immer das Glück, mit wunderbaren Musikern zu arbeiten, mit denen ich mich sehr gut verstehe, die auf mich zugekommen sind und wussten, wem sie sich aussetzten. Charles Curtis wusste, dass ich ihm nicht eine zweite Bachsuite schreiben würde. Ich habe die Zusammenarbeit mit solch wunderbaren Musikern sehr schätzen gelernt, denn mit meinem Synthesizer war ich ja mein ganzes Leben lang immer alleine gewesen.
Ich spiele zwar nicht mit den Musikern zusammen, doch während des ganzen Kreationsprozesses entsteht ein sehr nahes Miteinander, es herrscht eine gleichsam osmotische Beziehung, die sie beim Musizieren entwickelt haben. Es ist eine große Freude für mich, sie zu hören, es berührt mich sehr. Charles spielt sein Stück jetzt schon etwa zum 30. Mal, Carol und Bruno zum 15. Mal und das dritte Stück, das Trio, wird heute Abend zum 7. oder 8. Mal gespielt (1). Aber sie fangen gerade erst an, das Stück zu meistern. Der beste Vergleich ist eine Rosenknospe – je länger sie es spielen, desto weiter öffnet sich die Blüte. Sie haben jetzt eine wundervolle Reife und Meisterschaft. Anfänger könnten das nicht spielen.
JR: Noch eine Frage, was die natürliche Intonation betrifft. Sie interessieren sich für den tibetischen Buddhismus. In dessen Tradition sowie in traditioneller Musik überhaupt spielen die feinen Obertöne und Tonunterschiede eine entscheidende Rolle. Entsprechend gestaltet sich das Hören der Naturtonintervalle viel feiner. Welche Rolle hat das für sie gespielt?
ER: Merkwürdigerweise bin ich dem Buddhismus erst durch die Musik begegnet. Die erste Qualifikation, welche meiner Musik nämlich gegeben wurde, war, sie sei meditativ; dabei hatte ich den Buddhismus noch nicht kennengelernt. Erst mit meinem Stück PSI 847 kam ich dem etwas näher, was ich suchte, einer meditativen Musik. Am Mills College in Kalifornien 1974 kamen dann buddhistische Studenten auf mich zu, und mein darauf folgendes Studium des Buddhismus fühlte sich wie selbstverständlich an. Ich dachte sogar daran, im Buddhismus Karriere zu machen, mich dem völlig zu widmen angesichts der Tiefe, die ich entdeckte. Doch hatte ich das Glück, mit großen Meistern in Kontakt zu sein, und die fanden wohl, ich sei nicht begabt genug, und schickten mich zur Musik zurück. Möglicherweise hatten sie genug davon, immer diese musikalischen Wege in meinem Kopf zu hören, und haben sich gesagt, dann soll sie das doch machen! Ich bin jedenfalls zurückgekommen, auch um der großen philosophischen Tiefe des Buddhismus eine Hommage zu erweisen. Er bleibt ein sehr wichtiger Teil meines Lebens.
Wenn ich mich in der klassischen Musik immer sehr von den langsamen Sätzen angezogen gefühlt hatte, fand ich jetzt den Grund dafür. Denn ein Maximum von Teiltonschwingungen, Ober- und Untertönen, diesen sehr langsamen Schwingungen, zu erreichen, wie ich es mit den Musikern jetzt versuche, funktioniert nur mit gehaltenen Tönen. Wie ein Sänger in die letzte Note seine Stimme völlig hineingibt, damit man das ganze Klangspiel sich entfalten hört und spürt. Alles hat einen Grund, nichts ist zufällig.
JR: Sie haben sich selbst vertraut auf Ihrem Weg der Langsamkeit, der ja ein Weg des subtilen Hörens ist.
ER: Ich würde nicht sagen, dass ich mir wirklich vertraut habe, denn ich kann mir kaum eine wütendere Kritikerin meiner eigenen Arbeit gegenüber vorstellen als mich selbst. Die Langsamkeit hatte ich natürlich schon, es ist hohe Virtuosität, einen gehaltenen Ton zu kontrollieren, nicht nur die Schnelligkeit. Ich hatte sie am Synthesizer mit den Feedbacks entwickelt, zwischen Mikrophon und Lautsprecher beispielsweise, wo man die richtige Distanz finden muss. Von technischer Seite her hatte ich also die Voraussetzungen für das, was ich hören wollte, bereits entwickelt.
JR: Zum Schluss eine Frage zur Rolle der Musik in unserer Gesellschaft, beispielsweise in Bezug aufs Hören in unserer lauten Welt. Spielt für Sie die Musik eine Rolle in der Gesellschaft?
ER: Ich sage Ihnen etwas Schreckliches: Ehrlich gesagt, habe ich mich darum nie gekümmert oder kümmern können. Ich bin extrem in dem, was ich tue. Immer wieder haben mich feministische Bewegungen zu rekrutieren versucht, und ich habe nichts dagegen, im Gegenteil. Nur habe ich denen erklärt, dass ich, wenn ich das machen würde, leidenschaftlich dabei wäre und keine Musik mehr machen könnte, und zwischen beidem habe ich mich für die Musik entschieden.
Und ich glaube, ich habe diese Musik machen können, weil ich mich nie wirklich gefragt habe, welches ihre Eigenschaften sind, ob „astral“ oder „minimalistisch“ oder was auch immer… Ich gebe mich zufrieden damit, dass es eine Musik ist, die zum Körper spricht – das bestätigen mir viele Hörer. Und das gilt besonders für meine elektronische Musik, in der es Rhythmen gibt, die mit den Bewegungen und dem Atem des Körpers mitgehen. Ich weiß auch, dass viele Tänzer, Yogalehrer und Schauspieler sie für ihr tägliches Training benutzen. Es beweist die Wirkung meiner Musik auf den Körper, wenn große Körperspezialisten eine Beziehung zu ihr finden.
Wenn ich mir Fragen über Rolle und Wirkung meiner Musik gestellt hätte, hätte ich sie nicht gemacht. Vor 30 Jahren interessierte sie fast niemanden. Es hat sehr lange gedauert, bis diese Musik akzeptiert wurde. Jetzt aber gibt es viele Mitstreiter und ich erhalte Briefe und CDs von jungen Musikern, die mir sagen, welch entscheidenden Einfluss sie auf sie gehabt habe. Das ist die höchste Belohnung für mich! Für diese einsame und aride Arbeit, die mich so große Anstrengung und Erschöpfung gekostet hat und in der die größte Schwierigkeit in meinem technisch dürftigen Material lag. Oft befürchtete ich, alles noch mal machen zu müssen; ich ließ dann die Version durchgehen, in welcher ich mich einfach ganz hingegeben hatte.
Entsprechend ist die einzig mögliche Weise, diese Art von Musik zu hören, eine völlig sich hingebende. Bei unaufmerksamem Hören wird sie unerträglich. Die Momente, in denen ich wütend bereit gewesen wäre, alles zu zerstören, waren solche Momente gewesen.
Solch eine Musik ist das Spiegelbild der eigenen Geisteslage, in der man sich im jeweils gegenwärtigen Moment des Hörens befindet. Sie reagiert wie ein Spiegel. Man hört nie zweimal auf die gleiche Weise, sondern entdeckt jedes Mal etwas anderes. Wenn jeder seine eigene innere Musik hören kann, wenn er sich dieser Art von Klängen hingibt, dann kann er alles hören – mit seinem Körper, seinem Geist, es ist offen.
- Charles Curtis, Carol Robinson und Bruno Martinez, Naldjorlak I, II und III.
- Fr „des fondamentales“
- ARP 2500 Modularsystem
Copyright Interview und Übersetzung aus dem Französischen Jorinde Reznikoff 2012