Hinter mir eine jungenhafte Stimme: ciao bella, ciao bionda, ciao molto bella, ciao bellissima, come stai? Come stai? Die Stimme gehörte einem kleinen, energiegeladenen jungen Mann, er begrüßte alle entgegenkommenden Menschen voll Freude, endlich wieder draußen, endlich sah er sie alle wieder! Sie riefen freundlich und lächelnd zurück. Ich ging auf die Via Garibaldi zu, an deren Ende heute wieder ein Boot mit Obst und Gemüse lag. Die Biennale ist abgesagt worden, am Arsenale hingen noch die Plakate … es hingen in der ganzen Stadt auch noch die Plakate mit dem letzten Aufruf verschiedenster Bewegungen und Initiativen zur öffentlichen Versammlung und zu einer Menschenkette gegen alles, was Venedig schädigt: die Kreuzfahrtschiffe, Air bnb, das durch Korruption seit Jahrzehnten verzögerte MOSE-Sperrwerk, dessen Fluttore das historische Venedig gegen das Hochwasser schützen sollen und das inzwischen völlig veraltet ist, die alleinige Ausrichtung auf den Tourismus etc. Abdrücke von Gelben Westen an den Mauern, ein besetztes Laboratorio mit dem Emblem der Zapatisten. Der kleine lustige Mann arbeitete, das sah ich am nächsten Tag, als ich hier, wo der aufgeschüttete Garibaldi-Kanal in den schmalen Rest der Fondamenta Santa Anna übergeht, fast als einziger Gast ein paar Sardinen in sauer eingelegt aß, am Gemüseschiff. Zum Feierabend packte er bei den Kisten mit an, die bis zum nächsten Tag in einem Verschlag neben dem Lokal untergestellt wurden. Das ärmere Venedig traf sich beim Einkaufen zum Schwätzchen, bevor die Leute beim Betreten der Läden die Masken hochzogen und die Hände desinfizierten. Die Lokale waren hier im Castello-Viertel leer. Man trank einen caffè draußen vor der Bar oder einen einfachen spris und kochte zuhause …
Im reicheren Venedig wurde ausgelassen gefeiert, am frühen Abend standen Trauben von Menschen, natürlich ohne Abstand, vor den Lokalen in Dorsoduro, zwischen der Fondamenta Zattere und dem Canal Grande. Auch der Campo Santa Margherita war voller Leute, die Stühle der Lokale auf dem Platz waren genau nach Abstandsregeln platziert und alle besetzt. Endlich sind die Kinder wieder draußen, erzählte uns eine Bewohnerin Venedigs. Sie war während der Ausgangssperre einfach jeden Tag spazieren gegangen, die Gassen waren menschenleer, das Wasser der Kanäle war nicht glasklar und sie hat auch keine Fische gesehen, wie in der Presse kolportiert wurde, aber es war spiegelglatt. In den kleinen Kanälen fuhren so gut wie gar keine Boote. Sie genoss die Stille, auch wenn sie doch manchmal unheimlich war. Keine Stimmen, kein Hupen, keine Schiffsmotoren, keine klatschenden Wellen. Und kein Dieselgestank.
Jeden Tag sind ein paar Touristen mehr da, hauptsächlich italienische Touristen, die sich sonst nicht hertrauen. Ein paar wenige Gondeln glitten am dritten Tag wieder durch die Kanäle, die Vaporetti fuhren wieder im normalen Rhythmus, während des sog. Lockdown hatten sie einen eingeschränktem Fahrplan, denn es dürfte ja kaum jemand fahren, und Touristen waren gar keine da.
In Venedig war es wirklich still, immer noch betörend still, hin und wieder ein Boot, eine leere Autofähre zum Lido … Man hörte die Möwen schreien, und die Mauersegler in ihren Schwärmen sirren. Auf dem Markusplatz eine immense stille Leere, ein moderates Aqua Alta bildete gegen Abend große Pfützen, in denen sich die Pracht der ehemaligen Verwaltungsgebäude und des Doms spiegelte. Die Größe des Platzes, die elegante Komposition der Gebäude kamen jetzt, in der Leere, in aller Schönheit zur Geltung. Am Freitag Abend wurden im Gran Caffè Quadri die runden Tische herausgestellt und weiß eingedeckt. Die Kellner mit weißer Maske, weißem Jackett, schwarzer Hose und Gummistiefeln entfalteten gekonnt die Stoffe und drapierten sie über die Metalltische. Als auf jedem Tischchen auf dem weißen Tuch eine weiße Lampe stand und leuchtete, gingen auf dem gesamten Markusplatz die Lichter an. Auf einer Empore draußen vor dem Caffè saß ein Pianist in schwarzem Anzug am weißen Flügel und spielte für den Platz auf. Niemand saß dort an den Tischen, aber etliche Einzelne standen herum und betrachteten die Premiere, oder war es die Generalprobe? Gegenüber das Caffè Florian war geschlossen, es war nur tagsüber offen, aber Tische und Stühle standen bereit, und so konnten sich die Besucher des Platzes dort hinsetzen und eine mitgebrachte Stulle verzehren und die Schönheit betrachten. Und der Musik lauschen. Und sich anrühren lassen, wie Venedig neu eingedeckt wurde. Am nächsten Abend würde jeder Tisch des Caffè Quadri besetzt sein. Auch meine Freundin und ich würden ein Glas Wein dort trinken, das mit einer Vielzahl von Nüsschen und feinen Snacks serviert wurde und das Abendessen ersetzte. Auch wir würden der Musik lauschen und das Licht des Platzes in der Dämmerung beobachten: den Himmel, die strengen Fassaden an drei Seiten und die byzantinische Fantastik des Duomo an der vierten. Und wie sich alles in den Pfützen spiegelte.
Auf dem Lido, wo wir am ersten Tag schwimmen gingen, um uns die lange Reise abzuwaschen, herrschte die friedliche frühsommerliche Stimmung eines die Saison erwartenden Strandbades. Das Wasser war sehr schön, angenehm temperiert, sehr klar. Auf der Hinfahrt hatten die Vaporetti-Fahrer gestreikt, zurück war der Arbeitskampf schon wieder beendet, und wir konnten in ein bereit liegendes Boot springen.
Unsere Unterkunft lag in der Calle de la Vida, ganz enge Gassen, am Ende ein Caffè für die Nachbarn, ein Stuhl und ein Tisch draußen, und ein offenes Fenster, das als Bartresen diente.
In diesen Tagen lag über Venedig ein Zauber, der jeden Tag ein wenig verblasste, weil alles wieder normaler wurde. Die Schönheit des Aufbruchs, einer Art Neubeginn. Mir ging durch den Sinn, wie es wäre, in einer Stadt zu leben, in der man weitgehend damit beschäftigt wäre, sie zu erhalten, weil sie so fragil ist. In der man ständig die Schäden des Wassers ausbessern muss, in der man innnerhalb der urbanen Gemeinschaft (es leben nur noch knapp 50.000 Menschen im historischen Venedig) immer wieder diskutieren würde, was zu tun ist, wie man die Probleme löst, wie man das Leben in dieser Hinterlassenschaft einer langen Geschichte gestaltet. Das würde ja eigentlich reichen. Es gäbe so viele Möglichkeiten in dieser Stadt, wenn sie sich nicht vom Tourismus zerstören lassen würde. Sie könnte ja trotzdem ein Zentrum für Menschen aus aller Welt werden, die bereit sind, an ihr und in ihr zu arbeiten und sich von ihr und mit ihr zu begeistern!
Nach drei Tagen geht es weiter nach Neapel. Vorm Betreten des Roten Pfeils Venezia-Napoli misst das Militär, das an der Front der Bahnsteige positioniert ist, den Fahrgästen an der Stirn die Temperatur. Dann dürfen sie den Zug betreten, bekommen an der Tür vom „Servicepersonal“ eine Papiertüte mit Maske, Einweghandschuhen, Desinfektionsmittel und einer Flasche Wasser ausgehändigt. Im Zug herrscht Maskenpflicht. Die Hälfte der Sitze ist als gesperrt gekennzeichnet.
In Neapel muss ich von der stazione ferrovia zur stazione marittima wechseln. Die direkte Verbindungsachse, der Corso Umberto I, ist deprimierend: staubig, laut, heruntergekommen, vermüllt. Kaum ein Mensch auf der Straße. Der Himmel ist grau, es fegt ein gewittriger Wind und wirbelt Plastikmüll durch die löchrigen und von Autos zugeparkten Straßen. Ich schlage mich in die Altstadt durch, da ist es auch recht leer, auf einer der Hauptgassen lungern die Ladenbesitzer herum und warten auf Besucher. Keine Touristen unterwegs. Aber ein paar Einwohner, man ist freundlich miteinander, setzt sich in die Sonne, sobald sie rauskommt, wartet ab. Ich verlaufe mich, bin viel zu weit gegangen, muss mich beeilen, um meine Fähre nach Procida zu erreichen. Ich muss endlose Wege in den Hafenanlagen bis zur Fähre zurücklegen, alles ist nur auf Autos ausgerichtet. Man kommt mit dem eigenen Auto oder mit dem Taxi. Zu Fuß geht man hier verloren. Dann habe ich es doch noch rechtzeitig geschafft.
Die Fähre, ein recht altes bauchiges Modell, fährt gerade ein. Wir fahren Richtung Ischia. Procida liegt als faule Socke flach vor den stolzen Bergen der Nachbarinsel. Der Himmel ist dramatisch ausgeleuchtet, es gewittert nicht, aber die dunklen Wolken schichten sich ständig neu zusammen.
Der Hafen von Procida: ein Traum. Ich war hier zuletzt mit Lutz vor zwölf Jahren. Es ist scheinbar alles noch genau so. Wie sympatisch das ist. Im Lokal neben dem Anleger bekommen wir zu unserem Corona-Bier fast eine Mahlzeit als Beilage. Die Architerktur der beiden Hafenorte, die quasi Rücken an Rücken an der schmalen Inseltaille liegen, einer Richtung Ischia, einer Richtung Neapel geöffnet, ist außergewöhnlich. Alle Häuser sind unterschiedlich, verschiedene Fassaden, verschiedene Farbanstriche. Auch kaum eine Fassade eines einzelnen Hauses ist symmetisch. Hier ein Balkon, da zwei Fenster, hier ein Torbogen oben unter dem Dach, da einer unten im Erdgeschoss. Offenbar durften die Fischer, die diese kleinen Häuser nach ihren Bedürfnissen gestalteten, ihrer Fantasie recht freien Lauf lassen. Und sie wollten sich, gerade in der Enge und dem begrenzten Raum, ganz individuell bemerkbar machen, besonders vom Meer aus, wenn sie zurück kamen, sollte ihr Ort als Gemeinschaft subjektiver Zeichen sichtbar sein. Le Corbusier soll beeindruckt gewesen sein, er hat diese Fassaden gezeichnet. Ich kenne keinen Ort, der so frei und heiter wirkt, allein durch die lässige Un-Ordnung der aufeinandergeschichteten Häuser.
Eine Freundin und ich beziehen eine Unterkunft am höchsten Punkt der Insel, der Terra murata, knapp 100 m hoch. Hier ist es ganz dörflich. Man muss ziemlich steil hochsteigen und erreicht am Ende einen von kleinen Häusern umgebener Platz, die Bewohner haben Stühle rausgestellt. Auf Procida gab es keinen einzigen Corona-Fall, aber auch hier musste die Hygienemaßnahmen und die Ausgangssperre in den winzigen Wohnungen eingehalten werden. Im Minibus, der uns am ersten Abend hier hochbringt, ist der Fahrersitz noch mit improvisierten Plastikplanen komplett vom Fahrgastbereich isoliert. Die Ausgangssperre ist aber seit zwei Wochen beendet, Kinder und Jugendlichen sind wieder draußen, die Schulferien haben begonnen. Von unserer Dachterrasse blicken wir tags und nachts auf die zwei Häfen (den Fischerhafen und den Fährhafen), auf Ischia und die Ausläufer Neapels.
Eine junge Frau hockt auf den Treppenstufen eines Hauses und lächelt, indem sie die zwei oberen Vorderzähne entblößt, die wie bei einem Hasen vorstehen. Sie ist trotzdem schön, und vor allem scheint sie glücklich zu sein. Vor ihr arbeitet ein dicklicher kleiner Mann am Maschendraht, der das Tor vor ihrem Haus verstärkt. Sie scheint es zu mögen, wie der Mann langsam und bedächtig den Schaden im Zaun ausbessert, er erzählt dabei und sie lächelt und er erzählt weiter, und sie freut sich. Und ich gehe vorbei, immer weiter, durch die schmalen Straßen Procidas, durch die ganz knapp ein Auto passt, sie stammen aus einer anderen Zeit. Da die Häuser aber bis an die Straße gebaut sind, ist daran nichts zu ändern, es geht gerade mal ein Auto durch oder ein schmaler Minibus. Dreiräder fahren noch viele hier, sie heißen Ischiamotor, außerdem Motorräder, Motorroller und jede Menge Elektro-Fahrräder. Als Fußgänger ist man eindeutig in der Minderheit. Es gibt keine Bürgersteige, dafür ist kein Platz, man drückt sich an die Mauern oder in eine Hauseinbuchtung, wenn ein Auto naht. Endlos, diese Straßenwege zwischen den Mauern rechts und links, dahinter Gärten oder Gebäude …
Abends liege ich im Unterkleid auf der Dachterrasse unserer Unterkunft und gucke in den großen Wagen am Nachthimmel. Unten am Fährhafen wird das letzte Schiff nach Neapel beladen, die Lautsprecher schnarren herauf, die Schiffsmotoren dröhnen moderat. Es sind kleine und sehr alte Boote, die hier eingesetzt werden. Die schlimmste Rostlaube, Don Pepino, setzt nur direkt aufs Festland über, die nach Neapel sind aus der Folgegeneration, immerhin keine Rostflecken, innen alles ganz rudimentär … auf dem Tisch der Dachterrasse liegt ein Sonnenschirm, der bei jedem Windstoß seine schwarzen Schwingen auffaltet, was gegen den von Neapel erhellten Nachthimmel gespenstisch aussieht. Möwen gleiten still und schnell über mir vorbei, ihre Unterseiten von der Straßenlaterne orange beleuchtet.
Sehr schön alles, sehr friedlich, ein paar italienische Touristen genießen den frühen Sommer, alles macht wieder auf. Alles? Das weiß ich natürlich nicht … aber es wirkt so. Außer den mascherinas, die man sich aufsetzt, wenn man ein Lokal oder ein Geschäft betritt, ist von Corona-Viren nichts zu spüren. Schon am Morgen gehen die Familien an die schmalen schwarzen Strände aus Vulkankies, sie stellen die Sonnenschirme auf, die alten Damen stehen im Wasser und schwatzen, die Kinder spielen, die jungen schönen Körper lassen sich bräunen. Zeitlos. Die Lokale aus meinem Reiseführer von vor 12 Jahren gibt es noch, auch das Atelier einer Künstlerin, in dem mir Lutz damals eine Korallenkette schenkte. Die Korallen sind nicht von hier, aber die Kette ist von der Künstlerin gestaltet.
Nach drei Tagen am Meer, ausgefüllt mit Schwimmen an allen Stränden der Insel und Wanderungen auf allen Straßen, geht es zurück. Wir besteigen das Schnellboot, ein ganz moderner Katamaran, der eine aufgewirbelte weiße Spur hinterlässt und uns in einer halben Stunde nach Neapel bringt. Der Vesuv ragt als dunkelblauer Schattenriss aus dem blauen Meer unter dem wolkenlosen blauen Himmel. Nur direkt über den beiden Gipfelspitzen leuchtet wie hingetuscht ein weißes Wölkchen. An der Hafenbar ist gerade Stromausfall, so können wir keinen Kaffee trinken, sondern nur ein Kaltgetränk. Ich verabschiede mich von meiner Freundin und ihrem Sohn, der uns abgeholt hat, und gehe wieder zu Fuß durch die Altstadt. Es liegt heute kein Gewitter in der Luft, sondern ein sanfter Sommerhimmel in hellem Blau ist aufgespannt, die Menschen sind besserer Laune, gelassener. Ich finde ohne Probleme den Bahnhof und steige in den Schnellzug nach Padua. Dort noch eine Nacht, um am nächsten Tag nach Innsbruck zu fahren und mit dem ersten Nachtzug der Nach-Corona-Zeit nach Hamburg zurückzukehren. Wie bei der Hinfahrt scheitert der Grenzübergang zwischen Österreich und Italien an der österreichischen Abschottungspolitik. Beide grenzüberschreitenden Züge, für die ich Tickets gebucht hatte, wurden gecancelt. Auf der Hinfahrt mussten die Freundin und ich im Auto des Freundes eines Freundes über den Brennerpass nach Bolzano gefahren werden, und auf der Rückfahrt musste ich mich in italienischen Regionalzügen bis Brennero anschleichen, um von dort eine schicke österreichische S-Bahn bis Innsbruck zu nehmen. Das aber klappte, und so lag ich am Tag 12 der Reise im Schlafwagen nach Hamburg-Altona.
(Hanna Mittelstädt, 1.7.2020)