Shiva

Ein Reh liegt jetzt auf meinem Bett. Links am Ende auf der freien Seite. Wenn ich im Halbschlummer liege, sehe ich dich, Shiva. Das Reh habe ich auf dem Flohmarkt gefunden, zwischen Gartenzwergen, es klebte noch Erde an seinem weichen braunen Plastikfell. Für V., denn Rehe mögen V. Seine hellen Glasaugen sehen mich an. Es ist noch kleiner, als du es gewesen bist.

Eine kleine zarte Katze warst du, mit einem Schildpattfell, welches im Laufe deines Lebens immer dunkler wurde. Auch dich hatte ich damals für V. geholt. Doch zu mir wolltest du, hast dich furchtbar angestrengt zwischen deinen drei hübschen Geschwistern, die alle ein Heim suchten. Aus Andalusien, vom Hafen, hatte euch der Bruder von M. vor dem Vergastwerden gerettet. Luftsprünge machtest du unter dem Vorwand, eine Staubflocke zu fangen. Und es war klar.

Shiva war dein Name, Shivamaus rief ich dich. Seither warst du meine treue, manchmal hartnäckige, immer zärtliche Gefährtin. Elf Jahre lang durch die Abenteuer meines Suchens und des Großwerdens meiner drei Töchter hindurch. Vier Wohnungen, drei Umzüge. Episoden, in denen du mir dein Unwohlsein durch Benagen von Bauch und Pfoten unmissverständlich nahelegtest. Bis an die Grenze des Erträglichen. Doch zuletzt warst du angekommen in deinem Katzenparadies in der Schützenstraße. Ein Loft mit Balkon und vielen Kuschelecken für uns beide. Und Räumfluchten oben und unten, die Türen standen offen, du warst frei, entschiedst dich mit Bestimmtheit jeden Tag neu, zu bleiben oder zu H. oder in den Verlag zu gehen. Zur stolzen Nautiluskatze mit H. und den vier K.s bist du avanciert.

Und dann war da der Garten mit seinen Gerüchen, dem Wind, dem Regen und der Sonne. Langsam hast du ihn erobert, gelernt, was Katzen tun, um ihre Ruhe zu haben. Stolz, aber auch erschrocken warst du über dein Buckeln, Schwanzbauschen und die fremden Fauchtöne, welche aus dir herausbrachen. Die kleine dunkelgefleckte Katze hatte gelernt, große schwarzweiße und dicke rote Katzen zu verscheuchen. Allein herrschtest du über unsere Hacienda. Von dem schwarzen Vogel mal abgesehen, deren orangegelb spitzer Schnabel dir ungeheuer blieb.

Und immer war jemand da. Denn eines mochtest du nicht, alleine sein. Unermüdlich suchtest du Kontakt zu den Menschen. Wolltest kuscheln und gestreichelt werden und tatest deines Gleichen. Mal legtest du dich wie ein Schal um Schultern, die breit genug für dich waren, dann bekam man auch deine Krallen zu spüren. Wenn ich mir meinen Morgenkaffee ins Bett holte, krochst du auf mein Herz, legtest Deine Pfoten um meinen Hals und riebst dein Näschen an meinen Wangen, laut schnurrend. Kam ich nach Hause, saßt du schon Minuten vorher an der Tür und begrüßtest mich mit lautem Maunzen aus Protest und Begeisterung. Klingelte es an der Tür, sprangst du als erste zur Begrüßung heran. Ich stellte dich dann vor. Als Hund, der sich im Katzenfell verirrt hätte.

Saß ich am Computer, schlichst du dich von hinten in seine Wärme und schriebst, wenn ich nicht hinsah, Facebooknachrichten an Freunde, die waren lang und einsilbig und stellten viele Fragen.

Überhaupt warst du eine merkwürdige Katze. Eines Tages reiße ich erschrocken die Balkontüre auf. Denn ich habe ein Vogelflattern gehört, und ich weiß, dass du draußen bist. Instinktiv fauche ich dich an. Doch dann halte ich inne und sehe dich neben einer Blaumeise sitzen. Erstaunt schaut ihr euch und mich an, als würdet Ihr fragen, was jetzt zu tun sei, was Katzen und Vögel denn in einem solchen Fall täten und überhaupt miteinander zu tun hätten. Ich nehme das Vögelchen in die Hand, um es auf Verletzungen hin zu untersuchen, kann jedoch kein Zeichen entdecken. Ganz ruhig schlägt sein kleines Herz in meiner warmen Hand. Du, Shiva, schaust hilflos abwartend zu, ohne dich zu regen. Nach zehn Minuten breitet das Vögelchen seine Flügel aus, zwitschert uns einen Gruß zu und fliegt mühelos in den hellblauen Himmel.

Doch dann kam diese Nacht, die deine letzte sein sollte. Gespuckt hattest du, wie Katzen es öfter tun, ein wenig heftiger als sonst. Ich hatte mich mit M., deiner Ärztin, beraten und dich mit Heilendem versorgt. Bis heute ist sie sich sicher, dass es keinen sichtbaren Grund für deinen plötzlichen Tod gab.

Denn plötzlich warst du fort. Unerwartet. Ich war bei S. gewesen, um alte Knoten auf dem Weg zur Freiheit zu lösen. Kam nach Hause, zuversichtlich und befreit, dann fand ich deinen leblosen Körper. Und da war diese tiefe Delle im Kissen auf deinem Stuhl am Ende des Raumes, der Fuchs mit der Gans im Arm lag am Boden. Am Tag davor hatte ich geputzt und alle Kissen frisch aufgeschüttelt. Dann sah ich Kuhlen auf allen deinen Lieblingsplätzen, tief, als hättest du leichtes Wesen dich noch ein letztes Mal erdenschwer gemacht. Du hattest Abschied genommen, du wusstest es.

Am Nachmittag desselben Tages noch hattest Du bei S. vorbeigeschaut, mir ausrichten zu lassen, dir gehe es gut, du habest eine andere Aufgabe übernommen, seist zu Neuem unterwegs.

Deinen Katzenkörper haben wir im Garten begraben, ganz nah an dem Ort im neuen Haus, an dem ich bald schlafen werde. Du kennst ihn.

Groß die Trauer. Ich muss lernen, dich gehen zu lassen. Oft noch schleicht dein Schatten zwischen der Tür hindurch, die ich offen lasse. Und manchmal schickst du mir einen Wink. Am Vorabend deines Todes hatte W. dich fotografiert. Ich hatte ihn dazu inspiriert, ein Foto mit seinem neuen Handy zu machen, seine Wahl fiel auf dich, meine kleine Coachingassistentin. Wie oft bei den Sitzungen hattest du still auf dem Sofarand neben dem geduldigen Teddy gesessen, um kurz vor Ende eigenwillig fortzuspringen, denn Abschied war dir so Feind wie Ankunft Freund. Doch dieses letzte Mal bist du geblieben, hast dich majestätisch vor der Kamera aufgerichtet. Mit einem Blick, der weiß, eine Erscheinung, leicht transparent, die zum Verschwinden ansetzt.

Eine Katze ganz genauso wie du auf diesem letzten Bild sitzt auf einer Bluse vor einer Haustür, Joe & Paul Sisters, Fotoprint. Ich komme zur Tür herein, auf einer meiner Schatzsuchen im Secondhandladen, und mein Blick fällt auf dieses Gewand.

 

Jedes Mal, wenn ich nach Hause komme, begegne ich der Leere, die du hinterlassen hast, und der Ahnung, dass du nicht weit bist. Jetzt sitzt das Reh auf meinem Bett.

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