Nicole Bertolt stellt die Neuausgabe der unvollendet gebliebenen Schrift vor. Der Titel bewegt sich im Deutschen zwischen staatsbürgerlichem Abkommen, Abhandlung und Bürgervertrag.
Boris Vian ist 30 Jahre alt, als er sich in seinem „Traité civique“ über die Probleme der modernen Gesellschaft beugt. Die Zeit von St. Germain und Nachkriegsexistenzialismus liegt hinter ihm, er hat sich gerade von seiner Frau getrennt, und seine Publikationen finden kaum Anerkennung. Er stellt sich also Fragen zur Zukunft seines eigenen Lebens und dem Leben in der Zukunft überhaupt. Die Folgen des Kriegs sind auch in Frankreich noch sehr spürbar. Boris Vian interessiert sich weder für Kritik noch Analyse. Seine Perspektive ist die des Dichters, Pataphysikers und Ingenieurs, als solcher denkt er schon über die erst kommende technologische Entwicklung der folgenden Jahrzehnte hinaus. Im Umfeld seines Nachdenkens liest der oft für unseriös gehaltene Vian Sartre, Baudelaire und Lorca neu, sowie deutsche Philosophen wie Kierkegard und Schopenhauer.
Seine zweite Ursula Kübler-Vian hat diesen unvollendeten Text erst nach dem Tod von Boris entdeckt und vertraut ihn in den 1970er Jahren dem Doktoranden Guy Laforêt an der Universität an. Der Text besteht aus Vians Textkorpus sowie Exzerpten und Notizen.
Im Mai 2015 erschien der Text in einer völlig neu von Nicole Bertolt (mit Einwilligung von Patrick Vian) präsentierten Fassung in der Edition de Poche herausgegeben. Der Text von Vian wird von einigen wichtigen Dokumenten, Bild und Text, umgeben, die Vians Intention für alle verständlich macht, denn das war stets Vians Anliegen.
Wichtige Themen sind beispielsweise Demographie und Ökologie, sie werden urbanistisch-konkret und mit spielerischem Ernst betrachtet. Wie könnte man unsere moderne Gesellschaft, wie könnte man die moderne Großstadt Paris neu gestalten in einer Weise, die der Seele gut tut.
A propos Technologie lädt Vian die Jugend ein, furchtlos mit der Technik umzugehen, sie einfach als Erleichterung des Lebens zu nehmen: „Le robot ne nous fait pas peur“. Der Roboter hilft uns, Freiraum zu schaffen für Dichtung, Kreativität und Müßiggang.
Dieser Traktat hat durchaus auch mit dem „Schaum der Tage“, Vians bekanntestem Roman, zu tun. Der Schlüsselsatz sind die der Hauptfigur Colin in den Mund gelegten Worte: „Le plus important n’est pas le bonheur de tous les hommes, c’est le bonheur de chacun.“ „Am Wichtigsten ist nicht das Glück aller Menschen, sondern das eines jeden“. Um gerade damit auch anderen die Möglichkeit zu geben, sich vom Glück des einen anstecken zu lassen.
Es geht ihm um Ansätze zur Befreiung des Menschen.
Eine deutsche Übersetzung steh noch aus und ist erwünscht, umso mehr, als Boris Vian ausgezeichnet Deutsch sprach.
Jorinde Reznikoff spricht mit Nicole Bertolt über die Neuausgabe des „Traité de civisme“ von Boris Vian. Mai 2015.
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