Hoch und offen, der Himmel. Eine Rabenschar zieht vorüber. Am Ende verkünden blutrote Wolken Aufbruch. Wir treffen uns vor dem Stück. Olivia Grigolli kommt frisch aus der Maske, und so haben wir die Zeit, die wir uns laut Christoph Marthaler nehmen müssen, weil wir sie nicht haben, und die laut Dieter Roth verhindert, dass ein Gespräch sinnvolle Antworten auf allzu naheliegende Fragen gibt und kostbar umherschweifender Unsinn verloren geht. Als Ort des Gesprächs ergibt sich das Peacetanbul, gastronomischer Treffpunkt in der Kulturfabrik Kampnagel, das eine kongeniale Geräuschkulisse mit finaler Staubsaugersteigerung liefert. Anlass zum Gespräch ist Christoph Marthalers Arbeit Das Weinen (Das Wähnen) nach Texten von Dieter Roth, dem dadaistischen Schöpfer von Literaturwürsten, Schimmelbildern und Ein-Wort-Stücken wie Murmel Murmel (1974). Nach einer Stunde, in der auch die Sorge über die aktuelle gesellschaftliche Unfreiheit und die Notwendigkeit, die Bühne als uneingeschränkt öffentlichen Raum zu bewahren, zur Sprache kommt, macht sich Olivia auf den Weg hinter die Kulissen und ich sehe mich vor dem Betreten der Kampnagelschen Hallen einer akribischen Dreifachüberprüfung meiner Person ausgesetzt.
Das Weinen (Das Wähnen), diese Hommage an den Sätzebildner Dieter Roth, tastet sich behutsam an dessen Wortunsinngebilde heran. Spürt ihrem Beharren auf der Unsicherheit als Überlebenselixier nach und holt es in ein kontrapunktisch-klinisches Bild hinein, dessen asketische Absurdität bravourös das Kippen ins Anarchische übt. Eine fragile Komposition, die einem mit ihrer unerbittlichen Präsenz und Intensität nahegeht, über sich selbst hinausweist und leise schmunzelnd fleht: Wagt doch bitte das Spielen, es geht doch nur um dieses kleine flüchtige Leben …
Das Weinen (Das Wähnen) wird voraussichtlich zu erleben sein: in Nanterre-Amandiers vom 6–10. Oktober 2021 sowie während des Dialog Theatre Festival Wroclaw am 15./16. Oktober 2021. Weitere Daten werden hoffentlich folgen. Das Dieter-Roth-Museum befindet sich in der Abteistraße 57, Hamburg.