Am 3.9.2015 habe ich mit Shumona Sinha ein Gespräch geführt. Hier ist es – auf Französisch/en français! – nachzuhören und in einer Kurzfassung auf Deutsch nachzulesen.
(wohlbemerkt: es ist keine genaue Übersetzung!)
J(orinde) R(eznikoff): Shumona, Sie haben 2014 ihren dritten Roman geschrieben – „Calcutta“. Das in Deutschland auf der aktuellen Lesereise vorgestellte Buch in deutscher Übersetzung ist Ihr zweiter Roman. Sein Erscheinen liegt bereits 4 Jahre zurück. Umso merkwürdiger, dass die Übersetzung gerade jetzt erscheint – in einem Moment, in dem die Migrationsnot hohe Wellen schlägt.
S(humona) S(inha): Ich stelle zur Zeit eher meinen zuletzt erschienen Roman „Calcutta“ vor. Aber für mich ist es kein Problem, in Deutschland über „Erschlagt die Armen!“ zu sprechen. Bei seinem Erscheinen in Frankreich hat das Buch hohe Wellen geschlagen, ich habe sogar meine Arbeitsstelle verloren. Und es ist in der Tat ein delikater Text, ein zweischneidiges Schwert. Meine Position in diesem Roman ist nicht direkt Mitleid mit den Einwanderern, ich versuche die Komplexität der Situation zu zeigen. Es gibt kein schwarz oder weiß oder gut oder schlecht. Deshalb besteht die Gefahr, dass es missverstanden wird, in falsche Hände fällt – z.B. der Rechten. Was ich zeigen, kritisieren will, ist das „Empfangs“-System, und zwar ganz präzise der bengalischen Asylbewerber in Frankreich. Sie werden zum Lügen gezwungen, da sie als ökonomisch-ökologische Einwanderer eigentlich gar keine Chance auf eine Genehmigung ihres Asylantrags haben, denn die wird nur politischen Bewerbern zugestanden. Dennoch werden sie irgendwie akzeptiert, bleiben dann oft ein paar Jahre, stellen immer wieder neue Anträge, die wieder – zu 100 %!! – abgewiesen werden und arbeiten illegal zu Hungerlöhnen. Dieses mafiöse System, dieses kafkaeske bürokratische Konstrukt, welches die Einwanderer zum Lügen zwingt, wollte ich anprangern. Doch diese Situation hat wenig zu tun mit der aktuellen Einwanderungswelle aus dem Nahen Osten.
JR: Zur Zeit gibt es eine enorme Solidaritätsbewegung, die vielleicht ärgerlich auf einen solchen Titel reagieren könnte. Doch ist ein solcher Titel ganz offensichtlich als Provokation gemeint. Woher stammt der Titel?
SS: Der Titel entstammt einem Prosatext von Baudelaire, dessen Botschaft ist: Leute, ihr Bettler, richtet euch auf, hört auf zu buckeln, euch klein zu machen. Genau das habe ich auch erlebt als Dolmetscherin für diese Asylberwerber. Auch ich fühlte die Notwendigkeit, sie wachzurütteln und ihnen klarzumachen, in welch unwürdige Situation sie sich begeben.
JR: Was ist der autobiographische Anteil in Ihrem Roman? Ich nehme an, Sie haben keinen Asylbewerber mit einer Weinflasche erschlagen! Haben Sie eine solche Situation miterlebt?
SS: Nein, absolut nicht. Zu meinem Romanplot kam es auf folgende Weise: Erstmals 2009, als mir der Dolmetscherposten von einem Institut für orientalische Sprachen angeboten wurde, habe ich von diesen Menschen meines Herkunftslandes, diesen Bevölkerungsschichten, überhaupt Kenntnis genommen. 2001 war ich nach Frankreich zu Studienzwecken gekommen, hatte aber keinerlei Kontakt mit ihnen und keine Vorstellung davon, wie und wovon diese sichtbar Ärmsten der Armen im Pariser Becken, Inder, Pakistanesen und Bengalen, leben. Erst 2009 lernte ich diese Welt kennen – und das war ein richtiger Schock für mich. Ich lernte ihr Elend, ihre Nöte, ihre Wut kennen. Und ich musste das aufschreiben. Jeden Tag, nach 10/12 Stunden Übersetzerarbeit, habe ich mich hingesetzt und aufgeschrieben, was ich erlebt hatte – Situationen, Menschen, Bilder. So hatte ich nach relativ kurzer Zeit das Grundmaterial für meinen Roman zusammen. Dann stellte sich mir aber die Frage bzw. ich stelle mir diese Frage immer beim Schreiben: Wer erzählt und für wen erzählt die Erzählerin und weshalb tut sie das? Die Ichform war rasch klar. Doch dann suchte ich eine Erzählachse, um die herum ich erzählen konnte. Der Gewaltakt, der die Geschichte einleitet und lenkt, ist also nur ein Erzählvorwand, aber keine wahre Begebenheit.
JR: Es ist eine starke Erzählachse, die gegen die „normale“ Erwartung verstößt. Die wäre ja eher eine Aggression Einheimischer gegen Fremde.
SS: Für mich geht es auch um einen Klassenkonflikt. Denn die Erzählfigur kommt aus einer gehobeneren sozialen Klasse als die Einwanderer. Das ergibt ein extremes Gefälle und bedeutet auch, dass eine Frau als Dolmetscherin von den Landesgenossen nicht akzeptiert wird, eine weiße das aber wohl. Es gibt also auch innerhalb der „armen“ Länder Klassen- und Religionskonflikte,den nicht nur zwischen reichen nördlichen und armen südlichen Ländern. Das darf man nicht vergessen. Es gibt also viele Elemente, die den Druck auf die Hauptfigur in meinem Roman immer mehr verstärken bis hin zur Explosion.
Das Bild, welches Europäer sich von Ländern wie Indien, Bangladesh, Sri Lanka usw machen, ist ein sehr einseitiges.
Ich habe keinerlei ethnische Solidarität. Die ist für mich nur die Kehrseite des Rassismus. Wenn ich mich systematisch mit meinem Land solidarisieren würde, dann müsste ich im Fall von Außenkonflikten ja auch systematisch Gegnerin anderer Länder sein. Und das kann und möchte ich nicht. Ich sehe die Dinge aus internationaler Sicht.
JR: A propos der Kunst des Schreibens: Ist Ihr Schreiben eine Art Katharsis?
SS: Es stimmt, dass ich mich besser fühle, wenn ich nach einer schwierigen Situation geschrieben habe. Das Schreiben besänftigt mich, egal in welcher Form. Seit meiner Kindheit bin ich von Weltliteratur und der meines Volks umgeben. Das hat mich geprägt.
Doch das Schreiben eines Romans ist ein altruistischer Akt. Denn man denkt an die Menschen, an das Volk, man braucht dafür Großzügigkeit. Es geht nicht nur um die eigene Katharsis.
JR: Ich erlebe Ihre genaue Art hinzusehen und zu schreiben als eine Weise, den Menschen ihre Würde und Schönheit zurückzugeben. Und Orte, die Unorte sind wie die Pariser Banlieues und die Büros dort, bekommen eine Präsenz, die sie ja auch haben. Ihre Sprache rettet die Orte und Menschen durch die Sprache.
SS: Am liebsten würde ich Sie jetzt überall zitieren, weil Sie meinen Text wirklich verstanden haben. Das berührt mich sehr.
Vielleicht hat mein Stil etwas mit meinen lyrischen Anfängen zu tun, Das waren meine Anfänge, meine Vorbereitung – schon in den Schuljahren. Die Poesie des 20. Jahrhunderts ist für mich ganz wesentlich. Poesie ist für mich die Kristallisation der Kunst.
Ich fühle mich in der Poesie zu nackt, zu ungeschützt. Ich bin eigentlich eine gescheiterte Poetin. Also schreibe ich Prosa, in die sich Poetische aber von selbst infiltriert. Die Bilder kommen einfach wie Lichter zu mir – und beim Lektorat meiner Romane verteidige ich meine Bilder meistens.
Beim Suchen und Finden der Bilder geht es nicht ums Aufhübschen, sondern um die Suche nach einer inneren Logik – ich komme ja aus einem kommunistisch-marxistischen Umfeld. Also gibt es immer einen genauen Bezug zur Realität.
Dazu auch der Beitrag „Assommons les pauvres!“/“Erschlagt die Armen!“⇒