Das schwarze Licht des existenzialistischen Chanson
Konzert auf der Fête de l’humanité am 13.9.2015 _ concert à la Fête de l’humanité le 13 septembre 2015
Es ist der Auftakt zu ihrer Abschiedstournee. Alle französischen Zeitungen haben davon berichtet. Juliette! Juliette! so wird sie nostalgisch-liebevoll und auch ein wenig verbrüdernd auf die große Bühne gerufen. Der weite Raum davor versinkt mutlos im Schlamm, nur langsam wagen sich Menschen staksend auf das glitschige Gelände. Kaum Journalisten sind da, es dürfen keine Fotos gemacht werden, Juliette Grécos Augen ertragen grelles Licht nicht mehr. Eigentlich mochte sie es noch nie, denn Juliette, deren Heimat die Bühne ist, scheut das Rampenlicht. Es lockt und erschreckt sie zugleich, das ist ihre Geschichte, ihr Wagnis.
So verweigerte sie lange das Wort – bis zu dem Tag, als Boris Vian ihr „die Freude an der Sprache zurückgegeben hat.“: „Ich kam aus dem Gefängnis, und ich wollte nicht mehr sprechen. Meine Mutter und meine Schwester waren in das KZ Ravensbrück deportiert worden. Nicht weil wir Juden waren, sondern wegen ihres Engagements in der Résistance. Und im Gefängnis hatte ich nichts als Beschimpfungen und Erniedrigungen gehört. Ich hatte einfach keine Lust mehr, zu sprechen. Damals war ich knapp 18 Jahre alt, aber heute entspricht das einer 13-Jährigen. Ich war sehr verschlossen damals, ich fand es überflüssig, zu reden. Und Boris sagte eines Abends in einem Café zu mir: »Gréco, warum sprichst du nicht?« – »Weil ich nichts zu sagen habe. Und weil Worte überflüssig sind.« Da merkte er, dass mit mir etwas nicht stimmte. Ich bin dann oft zu Fuß bis nach Montmartre in seine Wohnung gegangen, ich lag auf seinem Sofa, er legte den Arm um meine Schultern und redete so lange auf mich ein, bis ich eines Tages geantwortet habe.“ (Interview mit Petra Reski, Die Zeit, 10. Mai 2007) Und seither nicht mehr geschwiegen hat.
Schon bevor sie das Wort als eine gesungenes wiedergefunden hat, webt sie am Existenzialismus mit, als schweigende „Muse“. Der französische Existenzialismus ist ohne diese schwarz gekleidete elegante Frau nicht denkbar, die Erotik in den Intellektualismus eines Sartre und einer Beauvoir brachte.
Seither ist sie eine der markantesten Interpretinnen am melancholischen Himmel des französischen Chanson. Generationen von Menschen hat sie begleitet, ihnen Kraft gegeben, mit ihnen diesen „Liebesakt“ gewagt, der die Begegnung mit dem Publikum für sie darstellt: „Er ist physisch spürbar. Es ist die totale Lust. Manchmal herrscht eine bestimmte Stille im Saal – ganz so, als habe man die Zeit angehalten. Als gebe es nichts anderes als uns. Das Publikum und mich. Das ist ein überwältigendes Gefühl. Es ist ein Liebesakt mit einem sehr geheimnisvollen Liebhaber. Mit einem, den man sich nicht ausgesucht hat.“ (ebd.)
So ist es auch heute, an diesem 13. September. Es ist eine morastige Herausforderung, der Juliette Gréco majestätisch gegenüber tritt, als sie in ihrer langen schwarzen Robe mit kreidebleichem Gesicht vor das Mikrofon tritt, begleitet von ihrem Mann, dem Komponisten und Pianisten Gérard Jouhannest, und dem Akkordeonisten. Dort schlägt die fragil-mädchenhaft wirkende und zugleich unberührbar elegante 88Jährige Wurzeln für die Dauer des Konzerts. Doch dann steht da plötzlich eine Priesterin, deren dunkelrauchige Stimmgewalt kraftvolle Existenz ins Graue schleudert, zärtlich nuanciert durch diese unerhörten Hände, die jede Note feinziselieren. „Avec le temps“, „Le temps des cersises“ – und ja, „Déshabille-moi! Zieh mich aus“, das singt sie und reißt den Himmel auf und die Herzen. Für diesen einen Moment. „Ich bin einfach da. Für mich ist jeder Augenblick der beste Augenblick meines Lebens.“ (Interview mit Iris Radisch, Die Zeit, 23.4.2015)