Bis zum 25. September ist im Kunstmuseum Zürich die „Francis Picabia – Eine Retrospektive“ zu sehen, eine von Cathérine Hug (Zürich) und Anne Umland (New York) ko-kuratierte Ausstellung, die dann ins New York Museum of Art weiterwandern wird. Anlass, im DADA-Jahr mit Cathérine Hug das zu „Dadaglobe reconstructed“ aufgenommene Gespräch fortzuführen. Doch ist das Thema DADA nur das Sprungbrett in ein Leben und Schaffen, dessen erklärte Absicht und sich durchziehende rote Linie die permanente und inhärente Selbstvernichtung, Überlagerung, Übermalung, Überschreibung und Neuerfindung ist.
Inmitten der vielen verschiedenen Phasen Picabias, die in Zürich zu entdecken und sinnlich zu erleben sind, hebt Cathérine Hug die „lustvolle nomadisch-pluralistische Lebensführung“ des Künstlers hervor als Ermutigung für heutige „Identitätssuchen“.
Trotz charakteristischer Stilelemente wie Pinselstrich und Malgestik gibt es keinen „typischen Picabia“, er stand in einem fortwährenden gewollten Stilwandel. Entsprechend ist der Wiedererkennungswert, „das liegt aber schon in der Natur von Dada selbst: Es entzieht sich den Schubladen. Und es ist ein großer Befreiungsschlag in der Kunst gewesen, nicht mehr dem Schubladisierungsdenken gehorchen zu wollen“, so Cathérine Hug. Diskontinuität und Diskohärenz werden bewusst gesucht – ein Prinzip, welches nicht nur für Kunst und Künstler sich als erlösend erweisen könnte.
Und hier ein paar der angesprochenen „Punkte“ quer durch diese Diskontinuitäten in Picabias Leben und Wirken:
+++ Nach finanziell sehr erfolgreichen Anfängen vollzog Picabia um 1909 einen Bruch mit der tradierten Malerei und wandte sich selbiger als Konzept zu: Malerei als Diskurs über sich selbst.
+++ Bereits in seiner postimpressionistischen Phase hat er, bei genauerem Hinsehen, die Konventionen durchkreuzt (und die Impressionisten provoziert), indem er Postkarten als Vorlagen für seine Plein-Air-Malerei benutzt hat – also die modernste Kunst seiner Zeit, die Fotografie, zur Grundlage der traditionellen Malerei in ihrer direkten Variante gemacht. Was hier auf den ersten Blick gewöhnlich scheint, enthüllt sich auf den zweiten gerade als mehrfaches Durchbrechen des Gewöhnlichen. Und diese Bewegung des permanenten Ausbrechens ist vielleicht die Grundbewegungsart von Francis Picabia.
+++ Anreger und Coakteure in seinem Umfeld waren Gabrielle Buffet-Picabia, Guillaume Apollinaire („Les peintres cubistes“), Marcel Duchamp, Tristan Tzara, die Kubisten u.a. Entsprechend bedeutsam war seine kubistische Phase.
+++ Picabia hat sich stets für die aktuellen Technologien der Reproduktion und Medien interessiert. Hierin war er ein Pionier. „Die Kunst beschränkt sich nicht mehr auf die Leinwand“.
+++ Picabias Arbeiten während des 2. Weltkriegs sind schwer fassbar und dementsprechend problematisch – sie bewegen sich zwischen einem Sich-Anbiedern an eine zeitgenössische Ästhetik und deren Detournement und Parodie. Cathérine Hug betont, dass sie für den nordafrikanischen Markt geschaffen wurden, nicht für die französischen Besatzer und deren Kollaborateure. Darüber, dass Picabia weder im ästhetischen noch in deren propagandistischen Fahrwasser mitgefahren sei, sei sich die Forschung mittlerweile einig. Die genaue historische Aufarbeitung der betreffenden Akten sei allerdings gerade erst in Gang gekommen, da die südfranzösischen Polizeiakten zu Picabias kurzer Inhaftierung wegen Kollaborationsverdacht am Ende des Krieges erst seit Ende 2015 zugänglich geworden seien. Im September 2016 (also gegen Ende der Picabia-Ausstellung in Zürich) wird es ein Update dazu geben.
+++ In der Zeit des Informel sowie des Tachismus ist sein Spätwerk geprägt von Abstraktion. Auch sie wiederum durchbricht Picabia durch Titel und figürliche Suggestionen bzw. die suggestive Offenheit seiner Bilder für den Betrachter. Bezeichnend sei auch seine ikonoklastische Gestik in Form von Übermalungen seiner eigenen Bilder, die aber als solche noch erahnbar bleiben. Darin manifestiere sich sein ambivalentes Verhältnis zu seiner Kunst sowie der Kunstgeschichte im Allgemeinen. Wahrscheinlich spiegelt sich darin auch die Erfahrung des körperlichen Verfalls im Alter eines deklarierten Lebensgenießers. Denn Picabia liebte Lebensexzesse – Frauen, Parties, Drogen, Autos…
+++ Entdeckbar in dieser Ausstellung sind ganz besonders die neben den „Mécanomorphes“ und poetisch-parodistischen Bildern wenig bekannten kubistischen Arbeiten Picabias: Sie zeigen eine sehr einzigartige „sinnliche Suche der Abstraktion“. Cathérine Hug betont, es sei „eine sinnlich großartige Erfahrung, diese immersiven Bilder zu erleben“. Picabia sei einfach ein vorzüglicher Maler, dazu außerordentlich vielfältig, Dogmen durchbrechend und neue künstlerische Ausdrucksmedien, Verschränkungen und Kollaborationen ausprobierend bzw einführend.
Als Persönlichkeit der Moderne mache Picabia die von ihm gewollte und betont unzusammenhängend sein wollende Vielseitigkeit besonders sympathisch – hierin sei er ein ermutigendes Vorbild für eine lustvolle nomadisch-pluralistische Lebensführung, in der man viele Orte, viele Tätigkeiten, viele Bekanntschaften und Freunde, viele Familien und viele Identitäten hat bzw. aneinander reihen könne und auch müsse.
In dieser Hinsicht, aber auch im Blick auf die Qualität seines Werks verstehen sich die Züricher und New Yorker Ko-Ausstellungen als Hommage an das von der Öffentlichkeit verkannte Werk eines der großen Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts.
Dies Gespräch wurde im Rahmen der neopostdadasurrealpunkshow vom 11.8.2016 auf dem Freien Sender Kombinat Hamburg gesendet: Francis Picabia via Cathérine Hug – Manifesto/Julian Rosefeldt via Reinhard Spieler – und ein zweites Mal am 16.8.2016, gemeinsam mit einem Interview von Hanna Mittelstädt, der deutschen Picabia-Verlegerin: „Hommage à Francis Picabia – ‚Retrospektive‘ Zürich/New York und ‚Gesammelte Schriften‘ Hamburg„.