Giacomo Cuticchio sucht nach Worten, um die abgründig-lebendige Mechanik der Spielorgel im Kontext des sizilianischen Puppenspiels zu demonstrieren. Dann fängt er einfach an zu drehen. Spielt. In dem rauhen uralten Klang der Mechanik erhebt sich das Flehen des zum Tode verurteilten Gefangenen und baut sich zu einem elementaren Tremolo auf, das keine Minute braucht, um eine bleibende Erschütterung zu hinterlassen.
Nein, das Theater ist nicht tot.
Es werden Stimmen laut, in zwei Jahren werde es vorbei sein mit Theater und Kino. Und überhaupt habe sich diese Kunst in Zeiten ihrer erzwungenen Schließung als überflüssig erwiesen. Gähnende Leere herrscht jetzt in den Sälen mit den gezogenen Zähnen, die kaum noch ihren Mund aufkriegen, so reduziert und reguliert ist die Bewegung, dass es einem im Hals stecken bleibt, das Vergnügen, das ersehnte. Die Freude, die Begeisterung. Das Leben.
Nein, das Theater ist nicht tot. Vielleicht aber zeigt sich jetzt, dass eine bestimmte Form des Theaters tot ist. Dass längst ein Bruch stattgefunden hat zwischen seinen MacherInnen und den Menschen, dem Publikum, dem großen, jenseits des inzestuösen Kontextes, in dem das intellektuell-diskursive Theater westeuropäischer Provenienz erschlafft ist und sich zu Tode geritten hat – lange bevor es jetzt, nach dieser Zwangspause, so gnadenlos zu Tage tritt. In diesem pompös inszenierten Reich des Todes, zum Beispiel, mit seinem Riesenaufgebot an Prominenz und Utensilien, wer spielt da noch mit? Nicht einmal besagter Tod, dabei wäre es doch die Gelegenheit gewesen, sich gerade mit ihm auseinanderzusetzen, all den Fragen, die in seinem Schatten warten.
Nein, wenn, dann wird das Theater mit den Menschen sterben. Denn Menschen ohne Kunst hat es nie gegeben, die frühesten Zeugnisse der Menschheit sind stets kultureller – ja wesentlich theatralischer Natur.
Spiel mit den Elementen. Tanz mit den Göttern. Kampf mit dem Ungeheuerlichen. Sich in Bezug setzen zu dem, was über den Menschen, sein begrenztes Dasein, hinausgeht und ihn deshalb allererst menschlich macht. Von jeher hat der Mensch nur überlebt, weil er eben nicht nur überlebt hat. Sondern weil sein kleines Leben in den großen Schlaf eingebettet war – und er das wusste.
Viele Menschen des Jahres 2020 haben das offenbar vergessen und erstarren panisch vor dem Gespenst quicklebendiger winziger Wesen, die sie an die Endlichkeit ihres Erdendaseins – ihres Körpers – erinnern. Als ginge es um das bloße Überleben, und nicht das eigentliche, das nackte Leben. Jenes Leben, das frei von Bedingungen und Konventionen und über die beschränkte individuelle Existenz hinaus ist.
Doch Pan ist der lüsterne große Gott, der »Allgott« unter den Göttern, ewig geil, verspielt und leidenschaftlich verliebt, der ungöttlichste unter den Göttern – halb Tier, halb Mensch –wie der Satyr im Gefolge des Dionysos. Dionysos kennt kein Verbot. Er lotet die Untiefen der Entgrenzung aus, das ist seine Aufgabe im Weltgewebe. Apoll hält Licht und Maß dagegen. Dazwischen spannte sich die Welt des »antiken« Theaters aus, die nicht nur unverzichtbar für das Leben der Gemeinschaft war, sondern sie geradezu begründete. Am Theater teilhaben bedeutete, sich im Gewölbe des Weltganzen, in Tanz und Rhythmus des Lebens auszutoben, sich zu verlieren, um sich wiederzufinden. Man verließ das Theater anders, als man hineingegangen war. Vielleicht besser, zumindest aber ergriffen.
»Antikes« Theater war und ist präsent in jeder Form von Theater, das lebensbegründend wirkt, das etwas mit einem macht, das begeistert, berührt, erschüttert, verwandelt. Und das nicht als Programm, sondern selbstverständlich in seinem Handwerk – seinem Können, seiner Kunst – verankert. Als das Theater – wie die Kunst insgesamt – sich in die autorisierten Zonen des Bürgertums ausrangieren ließ, wurde es klein und rang von nun an um seine Wichtigkeit am Hof des Freizeit-Kunstgenusses. Scheinbar verzichtbar geworden.
Doch die Erinnerung an die Maske und die Puppe bleibt, die Erinnerung an das Großzeichnen und erkennende Distanzieren von Emotionen, an das Feuerwerk von pompöser Schöpfung und gleichzeitiger Zerstörung, wie es das Barocktheater und die Commedia Dell ‘Arte als Sinnbild der Welt feierten – die Erinnerung an all das, was das kleine Ich verschwinden lässt und über sich hinauszwingt in die große Freiheit, ins Ungeheure, in die Unendlichkeit. Ins Jenseits von Körper und Wort.
Die Maske, nicht als das verunstaltend Verdeckende, mit dem wir derzeit konfrontiert sind, sondern als das Fremde, welches das Andere enthüllt, das Ferne zur Sprache bringt, in unerwartete Dimensionen aufbricht. Jenes, was uns näherkommt als das, womit wir uns für gewöhnlich verwechseln. Die Maske als Sprachrohr, als Entlastung des Irrtümlichen und Verstärker des Eigentlichen. Nicht ich spreche, sondern es spricht. Die Sage. Das Epos. Das Gedicht.
Bei dieser Art von Theater geht es nicht darum, aktuell zu sein, zu illustrieren, zu kommentieren. Es geht nicht darum, dieses ganze Elend, das wir für unsere Wirklichkeit halten, noch einmal auf der Bühne zu reproduzieren – mimetisch oder verfremdet, mit Rotstift unterstrichen oder moralischem Zeigefinger ausgestattet. Es geht nicht um eine persönliche Handschrift, die gerade angesagt und morgen schon wieder langweilig geworden ist. Nicht um Quoten, Erfolgslisten und Auszeichnungen, dieses jährlich sich erneuernde Karussell, das sich auf die Kurzsicht der Horizontalität beschränkt.
Und zum Schluss noch ein Wort zum Beginn: Lasst das Gängeln mit euren uneleganten und humorlosen Anweisungen, hier nicht entlang zu gehen und dort nicht zu sitzen, bevor endlich seinen Auftritt hat, was zu erleben wir gekommen sind. Wir kommen in Selbstermächtigung und Selbstverantwortung. Frei. Seid ihr es auch. Fragt und feiert. Lasst die Korken springen. Spielt.
Theater, hört auf, aktuell und relevant zu sein! Hört auf, uns zu belehren. Spielt endlich wieder. Wagt es, unwichtig, klein und leicht zu sein. Besinnt euch auf das Wesentliche eures Handwerks. Ihr könnt das doch. Lasst uns spüren, dass ihr Lust habt, Theater zu spielen. Steckt uns an mit eurer Lebendigkeit. Begeistert. Verzaubert. Beschwingt. Erschüttert uns. Bringt uns zum Weinen und zum Lachen. Bewegt uns zum Nachdenken. Und wenn, dann mit allen Facetten des Seins: Berührt uns.