8:00 läuten die Glocken an diesem Freitag, den 20. Juni 2020. Ich sitze auf der Terrasse einer Air-BnB-Wohnung und trinke meinen ersten Morgenkaffee. Schiffe fahren vorüber in dem kleinen Kanal und der Lagune, die Fähren, die nur auf den Lido Autos bringen, sind fast leer. Der Krahn, einer der vielen, die seit dem letzten Hochwasser zu tun haben in dieser Stadt, hält noch stillschweigend seinen Arm in die Luft. Möwen und blauer Himmel kreisen über mir, die Luft ist frisch vom gestrigen Gewitter, das über die Stadt losbrach. Befreiend bedrohlich hatte es dramatische Farben und Lichtspiele über die Stadt getuscht, wir hatten Mühe, Unterschlupf zu finden. Am Ende der Regenbogen.
Wir wollten Venedig erleben – nach Monaten des Aushaltens zwischen innerer Rebellion gegen die Pestheilige und doch Mitmachenmüssen, teils aus Mangel an Handlungsmöglichkeiten, teils um die erstaunliche Angst der Menschen vor dem unsichtbaren Tod zu respektieren, der so lange weggesperrt schien und sie nun plötzlich daran erinnerte, dass ihre Körper sterblich und sie nicht von dieser Welt waren.
Venedig, die Ausnahmestadt. Venedig, das Exempel für den krakenartigen Zugriff des Menschheit-Ichs auf Schönheit, die der Welt zur Rettung gereichen könnte. Als wir vor drei Tagen abends angekommen waren – am 17. Juni, zwei Tage, nachdem die Grenzen wieder geöffnet worden waren –, stand der Himmel offen. Einen Augenblick lang. So könnte es sein. In Verbindung mit der Vertikale bleiben. Es wirklich wollen. Auf den sehr wenigen Menschen, die unterwegs waren, auf dem Platz des heiligen Markus, den liebevoll von der Lagune umplätscherten schwarzblauen Gondeln am Quai, lag ein Hauch von Jubel und Leichtigkeit. Ein befreites Lächeln. Sehnlicher Wunsch, diesem Glück ein Zuhause zu geben.
Der Kellner des Florian ist zuversichtlich. Es muss sich etwas ändern. Es wird. Er, der sich seit seinem 17. Lebensjahr keinen schöneren Arbeitsplatz vorstellen kann als hier, auf dem Markusplatz, hat daran keinen Zweifel. Die Musiker spielen heute zum ersten Mal wieder. Die eleganten weißen Anzüge werden nur von der kleinen blauen Maske verraten. Die Tische sind eingedeckt in ihr nobles Weiß, das in feierlicher Geste die Gäste empfängt. Beim Einbruch der Nacht, die Wolken haben ihre Drohgebärde zurückgezogen, fordern die Wasserlachen Umwege. Doch Klaviermusik hallt über den halbdunklen Platz, und die Kellner gegenüber, denn nun sind sie an der Reihe, haben ihre smarten Fliegen durch Gummistiefel ergänzt und werfen mit der einstudierten Geschwindigkeit, die Bühnenarbeiter während einer Aufführung auszeichnet, Tischdecken über die kleinen runden Tische. Deren Weiß, verstärkt vom Licht einer kugelförmigen Lampe, lässt keinen Zweifel. Nicht der Untergang, das Fest geht weiter.